Individuelle Wirkung
Für die weitere Diskussion unseres Modells »Impuls trifft auf Selbstorganisation« möchten wir ein Bild nutzen, mit dessen Hilfe der Yoga schon vor knapp zweitausend Jahren die Frage nach der Wirkung von Yogapraxis zu beantworten versuchte. Es ist das Bild eines Reisbauern, der zur Bewässerung seines Feldes einen Damm öffnet.
Was kann uns dieses Bild vermitteln? Im traditionellen indischen Ackerbau sind die Felder in kleine Parzellen aufgeteilt, voneinander getrennt durch einen Erdwall. Alle Parzellen grenzen an ein System von Gräben, die mit Wasser geflutet sind. Ist die Saat auf einem Feld ausgebracht, wird der Erdwall mit dem Spaten durchstochen. Das Wasser überflutet das Feld, und nach einiger Zeit beginnt darin die Saat zu wachsen. Yoga, heißt es im Yoga Sūtra – dem Text, der dieses Bild beschreibt – bewirke »nicht mehr« als ein Bauer mit dem Durchstechen eines Damms; das Wasser fließt von allein hinein, die Keimlinge sprießen ohne weiteres Zutun. Der Bauer gibt mithin »nur« einen Anstoß zum Wachsen und Reifen der Feldfrüchte. Auf die Yogatherapie übertragen, entspricht dieser Anstoß dem Üben einer bestimmten Praxis. Das Feld steht für den übenden Menschen, für das Gesamtsystem eines einzelnen Individuums. Auf den Impuls (das Wässern des Feldes, das Üben des Menschen) folgt eine Reaktion. So wie die Saat auf dem Feld wächst, verändert sich der Mensch durch das Üben einer bestimmten Praxis. Zu einer der Botschaften dieses Bildes haben Sie hier mittlerweile schon etwas gelesen: Jede Maßnahme des Yoga, die den Körper oder den Geist eines Menschen beeinflussen will, wirkt niemals direkt. Sie ist vielmehr der Anstoß für einen Prozess, der von der Eigendynamik des menschlichen Systems geprägt wird.
Worauf wir Ihre Aufmerksamkeit nunmehr aber richten wollen, ist eine zweite wichtige Aussage, die das Bild transportiert:
„Die Wirkung einer Yogapraxis organisiert sich in hohem Maße individuell.“
Auch in unserem kleinen Übungsvorschlag für Ihren Nacken ist dieser Aspekt zu berücksichtigen. Für Sie bekommt er vor allem dann praktische Bedeutung, wenn Ihre Verspannung sich von der Übung unbeeindruckt zeigt und der Nacken doch noch weiter schmerzt oder bestehende Schmerzen sogar zugenommen haben sollten (was wir nicht hoffen). So taugt diese Übung zum Beispiel gar nicht, wenn Ihre Nackenschmerzen von einem akuten Bandscheibenvorfall im Halsbereich herrühren würden. Wir kommen an dieser Stelle noch einmal auf das Bild zurück. Für das Reisfeld erklärt sich das Wachsen der Saat als Reaktion auf den Dammstich nur über seine Besonderheit, etwa darüber, wie die Beschaffenheit des Bodens ist, welche Reissorte ausgebracht wurde, wie viel Unkraut dort wachsen wird. Und wie für das bewässerte Feld gilt auch für das innere System der Yoga-Übenden: Die besonderen im Menschen angelegten Möglichkeiten bzw. jene, welche davon aktuell zur Verfügung stehen, bestimmen, wie Yoga darauf wirkt.
Alles, was wir Ihnen zu Muskeldurchblutung, zu neuromuskulärer Koordination, zu Stressabsenkung und zur Bedeutung eines Vertrauensvorschusses erzählt haben, ist weiterhin richtig. Wir haben es bisher nur unterlassen, von diesem besonderen Charakter des menschlichen Systems zu sprechen, der für das Verständnis der Wirkungen von Yoga von großer Bedeutung ist. Ihre Verspannung im Nacken ist von der Stärke her beispielsweise nicht dieselbe wie die einer anderen Leserin, die sich zu diesem kleinen Experiment hat überreden lassen. Der Zustand Ihrer Wirbelsäule, die Flexibilität Ihrer Bänder, Ihre Bewegungsmuster – all das findet sich so bei keinem anderen Menschen, und auch Ihre Vorerfahrungen mit Körperübungen sind andere, ebenso Ihre Einstellung zu einem solchen Verfahren, Ihr Vertrauen in den unterbreiteten Vorschlag etc. In der Konsequenz berühren die Impulse einer Yogapraxis also nicht nur unterschiedliche Lebensprozesse gleichzeitig, setzen nicht nur eine durch die menschliche Evolution geprägte selbstorganisierte Eigendynamik in Gang. Vielmehr wirken sie ganz spezifisch auf den einzelnen Menschen, dessen körperliche wie auch geistig-seelisch-psychische Strukturen sich durch eine hohe Individualität auszeichnen.
Aber – könnten Sie einwenden – folgen nicht alle Lebensprozesse des Menschen in weiten Bereichen immer gleichen Grundmustern und festgelegten Abhängigkeiten? Wird der Individualität hier nicht eine zu große Bedeutung beigemessen? Werden etwa nicht bei jeder Person, die regelmäßig eine halbe Stunde lang joggt, immer ein beschleunigter Puls und ein höherer Blutdruck zu beobachten sein, wenn diese Werte nach dem Laufen überprüft würden? Sie haben recht, das wird so sein. Gleichwohl wissen wir auch, dass die exakt gleiche sportliche Aktivität (zum Beispiel das Laufen von gleicher Dauer und gleicher Wegstrecke mit gleicher Laufgeschwindigkeit) in dem einen Fall den Blutdruck möglicherweise nachhaltig senken hilft, in dem anderen jedoch einen bedrohlichen Herzanfall auslösen kann. JedeR gute FitnesstrainerIn weiß heute, dass die Effektivität eines Workouts entscheidend davon abhängt, ob dieses für die jeweilige Person auch wirklich angemessen ist.
Die Berücksichtigung der Individualität hat eine große Bedeutung für die Therapie mit Yoga. Gleichzeitig widerspricht sie auch der landläufigen Meinung, einer einzelnen Yogaübung ließe sich verlässlich eine ganz bestimmte therapeutische Wirkung zuordnen. Es gibt kein »Āsana gegen Rückenschmerzen«, keine »Migräneübungen«, kein »Āsana gegen Verstopfung«, keine verlässliche »Praxis gegen das Reizdarmsyndrom«. Manche Schlafstörung verschwindet nach wenigen Wochen des Übens einfacher Āsanas, eine andere lässt sich nur über lange Zeit mithilfe differenzierter Atemtechniken beeinflussen und eine dritte verlangt neben Entspannungstechniken vom Betroffenen vielleicht vor allem einen anderen Umgang mit den Anforderungen des Alltags.
Die Wirkung einer Yogaübung ist eben nicht unabhängig von dem sie ausführenden Individuum, und sie kann nur im Zusammenhang mit der Individualität eines Menschen verstanden werden. Die Erfahrung zeigt immer wieder, dass zum Beispiel die gleiche Form einer fleißig geübten Rückbeuge den einen von seinen Rückenschmerzen befreit, während sie für den anderen eine Überforderung darstellt, die in mehr Spannung, mehr Schmerz und noch mehr Frustration mündet. Wer nur die Yogapraxis im Auge hat – also die einzelne Körper- oder Atemübung, die besondere Meditation – und nicht auch gleichzeitig die Besonderheiten der Übenden, wird weder befriedigende Wirkungen sehen noch die Gründe für bestimmte Sachverhalte verstehen.
So wie jeder Mensch ist auch eine Krankheit immer individuell; in ihrer Entstehung, ihrem Verlauf und den Möglichkeiten, sie zu beeinflussen, ist sie immer die spezielle Erkrankung von Herrn B. oder Frau S. Deshalb ist eine Yogapraxis auch nur dann effektiv, wenn die Impulse, die sie gibt, zur rechten Zeit mit dem rechten Maß an der richtigen Stelle ansetzen. Dass Bücher und Zeitschriften voll von angeblich sicher wirkenden Yogarezepten sind, sollte Sie nicht irritieren: Sie wissen ja, Papier ist geduldig. Das menschliche System reagiert auf eine Yogapraxis also immer nur in seiner individuellen Dynamik von Körper, Intellekt, Sinnen und Gefühlswelt. Für die konkrete Ausformung dieser Reaktion spielt auch der Umstand eine wichtige Rolle, dass die therapeutische Yogapraxis regelmäßig wiederholt werden muss. Je öfter und kontinuierlicher aber ein Übungsimpuls einwirkt, desto stärker reagiert darauf das System – in seiner eigenen Weise.